»Auf gar keinen Fall!« Ich spüre, wie mir sämtliches Blut aus dem Gesicht weicht. Fassungslosigkeit und Wut kämpfen in meinem Bauch miteinander, doch bevor ich noch mehr sagen kann, versagt mir die Stimme. Mit einer Hand klammere ich mich an die Lehne des Stuhls, die andere stecke ich in meine Hosentasche, um das Zittern zu verbergen. Warum fragt er mich das?
»Ach komm schon«, sagt Marcel und kommt mit seinem üblichen, charmanten Lächeln auf mich zu, in das ich mich verliebt habe. Heute jedoch kann es mich nicht beruhigen. Dass er überhaupt lächelt, fühlt sich mehr als deplatziert an. »Es ist ja nicht so, als hättest du damit keine Erfahrung, und ich finde es wirklich okay. Wir wären einige Sorgen los.«
»Du findest das okay, aha.« Ich klinge gefasster, als ich mich fühle, am liebsten würde ich ihm nämlich direkt vor die Füße kotzen. »Na wenn du das in Ordnung findest, dann brauchst du mich ja gar nicht mehr fragen.« Marcel hasst es, wenn ich ihm sarkastisch widerspreche, aber mir fehlen einfach die richtigen Worte, um auch nur annähernd ausdrücken zu können, was ich fühle. Eigentlich ist kotzen immer noch meine beste Option.
Marcel verdreht wie vermutet seine Augen. »War ja klar, dass du mir wieder so kommst. Sorry, da denke ich einmal an dich und deine Probleme und es ist doch wieder nicht richtig.«
Natürlich, er denkt, es sind meine Probleme. Dass wir verlobt sind und das Haus meiner Großmutter gemeinsam sanieren wollen, vergisst er regelmäßig. Besonders dann, wenn er seinen finanziellen Teil dazu leisten soll. Jeden Monat streiten wir über den Mietanteil, von dem er behauptet, ihn nicht direkt zahlen zu müssen, weil er doch Geld für die Umbauten zusteuert, wann immer ich es brauche. Nur leider gibt es jedes Mal dann, wenn ich danach frage, tausend Gründe, warum es genau in diesem Moment nicht möglich ist, Tapeten, Farbe, Holz oder andere Dinge zu besorgen.
Manchmal bin ich mir überhaupt nicht mehr sicher, ob ich ihn noch heiraten will. Und dann bekommt er mich jedes Mal mit seinem Lächeln und einem romantischen Ausflug rum.
Aber gerade bin ich nur noch müde. Meine Kunst bringt zum Glück ein stabiles Gehalt ein, doch der immer größere Schuldenberg dämpft meine Kreativität und das Atelier, das ich mir im Haus einrichten wollte, werde ich in den nächsten Wochen auch nicht fertig bekommen, da ich kein Geld für die Dachreparatur habe.
Dass ich nichts sage, scheint Marcel zu verunsichern. Normalerweise bin ich auch nie sprachlos. Er kommt noch näher und legt seine Arme zärtlich um mich. »Hey, tut mir leid. Ich dachte wirklich, dass es eine gute Idee ist. Es wäre schnell verdientes Geld und wir bräuchten uns dann erst einmal keine Sorgen mehr um die Heizanlage und das Dach machen. Ich wollte dich damit nicht beleidigen.« Er streichelt mir sanft über den Rücken und küsst meine Schläfe.
Ich spüre, wie mein Widerstand bröckelt, doch ich halte mich weiter verkrampft am Stuhl fest, habe Angst, umzukippen, sobald ich loslasse. »Ich kann das nicht«, sage ich leise und Marcel verstärkt zum Glück seine Umarmung. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie das ist. Die Zeiten damals haben mir alles abverlangt. Das Geld war vielleicht okay, aber was ich dafür aufgegeben habe, war es nicht wert.«
»Ich wusste nicht, dass du es so siehst«, erwidert Marcel sanft und endlich kann ich meine Hand von der Lehne lösen und ihn ebenfalls umarmen. »Es klang eigentlich immer so, als hättest du dabei Spaß gehabt.«
Ich bin mir sehr sicher, zwischendurch erzählt zu haben, wie belastend der Job ist, aber vielleicht war ich tatsächlich nicht deutlich genug. »Bis zu einem gewissen Grad hat es Spaß gemacht«, erkläre ich und ein Teil von mir stimmt dieser Antwort begeistert zu. Genau der Teil von mir, der mich überhaupt erst dazu gebracht hat, als Callboy zu arbeiten. Aber Fantasie und Realität sind wirklich zwei vollkommen unterschiedliche Dinge. »Aber es war vor allem belastend. Wenn ich mich jetzt noch einmal mit jemandem treffen müsste, hätte ich die ganze Zeit Angst, dass es wie bei meinen schlimmsten Aufträgen endet.«
»So schätze ich Hendrik nicht ein«, behauptet Marcel, dabei kann er gar nicht wissen, was ich damit meine.
»Hmm, klar. Deshalb redest du auch immer so begeistert von ihm.«
Marcel schnalzt mit der Zunge, lässt mich aber nicht los. »Dass er scheiße bezahlt und geizig ist, hat ja nichts damit zu tun, wie er sonst ist.«
»Du sagst doch die ganze Zeit, dass er alle wie Sklaven arbeiten lässt und alles für selbstverständlich nimmt. Das klingt nicht nach jemandem, der sich bei einem Callboy zurückhalten würde. Außerdem … wenn er sonst nicht zahlen will, wie kommt es, dass er für so was Geld ausgibt? Meintest du nicht, der hat jede Woche neue Chicks am Start?«
»Hat mich ja auch überrascht, dass er auf Kerle steht. Aber passt wahrscheinlich nicht zu seinem Image. Und wenn er diese Seite ausleben will, setzt er auf Diskretion und bezahlt die auch gut.«
Der Teil in mir, den ich sonst unterdrücke, ist nun doch viel zu neugierig und gewinnt die Oberhand. »Wie gut?«
»Also wir haben über vier Abende geredet. Für alle zusammen würde er zwanzigtausend Euro locker machen.«
Ich japse nach Luft und löse mich von Marcel. »Ist der ein bisschen bescheuert oder so?«
Marcel grinst. »Gut, oder? Wenn er weniger angeboten hätte, hätte ich dich gar nicht gefragt.«
Ungläubig schüttle ich den Kopf, halte dann jedoch inne. »Ich kann das trotzdem nicht. Ja, es wäre leicht verdient und brauchen kann ich es auch. Aber … das Thema ist für mich durch. Wie kommt er überhaupt auf mich?«
Für einen kurzen Moment glaube ich, Unwillen über Marcels Gesicht huschen zu sehen, doch er lächelt sofort wieder so breit, dass ich mich sicherlich irre. »Er hat dich auf der Weihnachtsfeier gesehen. Und keine Ahnung, irgendwer muss ihm gesteckt haben, was du früher gemacht hast. Er steht auch so auf diesen Fetischkram und vermutlich findet er niemanden, der ihm richtig gefällt.«
Mir gefällt ganz und gar nicht, dass mein früherer Job so leicht auf mich zurückzuführen ist. Dabei war ich durchaus vorsichtig damit, habe nie unter meinem richtigen Namen gearbeitet, und auf der Website war ich nur mit einer Maske zu sehen, die mein halbes Gesicht verdeckt hat. Damals habe ich mir auch keinen Bart wachsen lassen, während ich mich heute nur alle paar Tage rasiere. In meiner Verwirrung weiß ich nichts mehr zu sagen, weswegen schon wieder meine Neugier die Oberhand gewinnen will. »Fetisch ist noch mal was anderes. Je nachdem, was es ist, wird es noch gefährlicher für mich.«
»Oh, er geht da immer in diesen einen Club, der ziemlich streng geführt wird. Da wird auch alles überwacht und so.«
Bevor ich mir auf die Zunge beißen kann, habe ich meine Frage schon gestellt. »Club? In welchen?«
»Ins Anwesen, oder so was in der Art.«
Davon habe ich tatsächlich schon gehört. Ein alter Schulfreund von mir geht dort hin und wieder in den Darkroom. Vielleicht könnte ich ihn fragen, ob –
Was denke ich schon wieder? Meine Antwort lautet nein. Ich werde mich bestimmt nicht von einem Fremden in diesem Club ficken lassen. Auch nicht für zwanzigtausend Euro.