Leseprobe: Wolfsbrüder

Es fällt mir heute noch schwerer als sonst, mich mit gestrafften Schultern und unbeteiligter Miene der Gesellschaftsfeier zu stellen. Hier und da trifft mich bereits ein abschätziger Blick und Travis gibt sich erst gar keine Mühe, zu verheimlichen, dass er sich mit Olivia über mein neuestes Versagen unterhält.
Mir ist schlecht und am liebsten würde ich sofort verschwinden. Doch die Wahrheit ist: ich habe keine Wahl. Nun gut, ich könnte mich bei der Wolfshilfe melden, aber bevor ich das tue, schlafe ich lieber in einem Gebüsch. Wo mich niemand sehen kann. Wenn erst herauskäme, dass ich mich dafür angemeldet habe, könnte ich wahrscheinlich gleich aufs Land ziehen, mit meiner Karriere wäre es dann ohnehin vorbei. Und meine Familie würde mich auch komplett verstoßen. Aber genau von der muss ich mir jetzt Hilfe erbetteln, damit meine Notsituation nicht schlimmer wird, als sie sowieso schon ist.
Mein Stiefvater Scott scheidet von vorn herein aus, wenn meine Mutter nicht wäre, hätte er vermutlich schon jemanden angeheuert, der sich des Problems angenommen hätte. Am Ende hat mich sicherlich auch der Umstand gerettet, dass ich nicht mit ihm blutsverwandt bin – was er nie müde wird, zu betonen.
Dass meine Mutter gerne dasselbe sagen würde, macht meine Lage allerdings nicht besser. Gerade unterhält sie sich mit dem Mann, den sie liebend gern ihr eigenes Fleisch und Blut genannt hätte, weil er um so vieles erfolgreicher ist als ich. Henry. Großer, attraktiver, starker … absolut dummer Henry. Dass mein Stiefbruder sich überhaupt ein Brot schmieren kann, wundert mich jedes Mal aufs Neue. Unglaublicherweise kommt das bei Frauen auch noch gut an. Als ich ihn vor meiner ehemaligen Kollegin als Himbo bezeichnet habe, hat sie sofort zugestimmt und sich Luft zugefächert. Absolut verrückt! Aber nicht nur das, die Financial Wolf hat ihn jüngst zum reichsten Jungunternehmer der Stadt erklärt – während ich nach dem verlorenen Fall meine Sachen packen und gehen musste und nun absolut pleite bin. Mal wieder. Wahrscheinlich sieht meine Mutter deshalb so aus, als würde sie Henry vom Fleck weg adoptieren, einfach um die Schande in der Familie mit irgendetwas zu überdecken.
Das Grollen, das sich tief in meiner Kehle bilden will, muss ich mit aller Macht zurückdrängen, jetzt ist wirklich nicht der Zeitpunkt, an dem ich das riskieren könnte. Aber die Ungerechtigkeit wurmt mich einfach. Während hier alle wie üblich Champagner saufen und ihre neuesten Schmuckstücke bewundern, habe ich wochenlang durchgearbeitet und kaum geschlafen. Nur sieht das keiner, am Ende zählt nur das leidige Ergebnis.
Unvermittelt sieht sich Henry um und entdeckt mich. Er blinzelt schnell, lächelt dann aber und winkt mich heran. Verfluchter Mistkerl. Das Schlimmste ist, dass er wirklich immer so verdammt nett sein muss bei allem. Wenn er wenigstens eher wie Scott wäre, könnte ich ihn besser hassen.
Meine Hand verkrampft um das Wasserglas, während ich mich Schritt für Schritt nähere, hoffend, dass noch irgendetwas passiert, was mich rettet.
»Guten Abend, Claire. Henry.« Ich bemühe mich um ein förmliches Lächeln, doch der verkniffene Gesichtsausdruck meiner Mutter macht das beinahe unmöglich.
Sie sieht an mir auf und ab und schürzt dann die Lippen. »Bei der guten Hanwi, konntest du deinen Anzug nicht vorher bügeln lassen? Was sollen die Leute nur denken?«
Ich wusste, dass sie das sagen wird und ich wusste, dass es ein weiterer Punkt auf ihrer endlos langen Liste an Gründen werden wird, warum sie sich so für mich schämt, dass sie sogar die Mondgöttin anruft. Aber die Wahrheit ist einfach, ich konnte wirklich nicht. Weil ich mit meinem letzten Geld Brot und ein Stück Käse gekauft habe und zu guter Letzt den Fahrer, um hierher zu kommen. Meine letzte Chance, Obdach für heute Nacht zu finden. Denn mein sogenannter bester Freund hat es gerade mal über sich gebracht, zwei von meinen Taschen bei sich in den Schrank zu stellen.
»Du musst dir echt was einfallen lassen«, hat er mir düster erklärt, ohne auch nur die Ironie der Situation zu begreifen.
Nun stehe ich hier und muss mich gerade vor Henry rechtfertigen. Dessen Sakko natürlich akkurat sitzt. Vermutlich eine Maßanfertigung.
»Ich habe noch ein wichtiges Telefonat führen müssen«, antworte ich schließlich, was immerhin stimmt. Leider hat es nicht so lange gedauert, wie ich erhofft habe.
Meine Mutter sieht überrascht aus. »Ein neuer Job?«
»Noch nicht ganz, aber ich bin nahe dran«, sage ich und hoffe, sie nimmt mir die Lüge ab. Allerdings lässt mich ihr zweifelnder Blick etwas anderes annehmen.
Sie rückt näher zu mir heran und bringt ihren Mund nahe an mein Ohr. »Ich hoffe, du bist dir deiner Lage bewusst. Alle reden schon über dich und – so ehrlich will ich dir gegenüber sein – mir wurde bereits nahegelegt, dich fallenzulassen.«
Nur mit größter Mühe wahre ich eine starre Miene, während sich mein Inneres komplett verkrampft. Ich bin vielleicht nicht erfolgreich, aber deswegen nicht dumm. Dass sie mir hier eine Drohung ausspricht, ist mir daher vollkommen bewusst. Sollte sie mir den Familiennamen absprechen, bin ich ausgestoßen und kann zusehen, wo ich bleibe. In der Stadt gibt es dann nichts mehr für mich, nur Verachtung und Ausgrenzung. Wer keine Familie hat, ist so gut wie tot. Innerlich auf jeden Fall. Die einzige Chance, die es dann noch gibt, ist die Wolfshilfe, aber deren Wohnungen sind entweder irgendwo am Rand oder weit weg in Dörfern und auf dem Land.
Ich vermeide, zu Henry zu sehen, der mal wieder nicht mitbekommt, dass das hier nicht für ihn ist. Jeder andere hätte sich abgewandt, um nicht als unhöflich zu gelten, aber nein, für Henry gelten immer andere Regeln. Und natürlich sagt meine Mutter deswegen auch nichts.
»Ich bin mir meiner Lage bewusst. Daher wollte ich fragen, ob es möglich wäre –«
»Nein.« Ihre Antwort ist so prompt und kalt, dass ich ihr erschrocken in die Augen sehe. Doch das macht es nicht besser. Da ist kein Mitgefühl, nur dieser urteilende Blick, den sie normalerweise immer für die übrig hat, die sich kein eigenes Haus leisten können. Aber was wundere ich mich, ich gehöre dazu.
»Du weißt doch gar nicht –«
»Und ob ich das weiß, Andrew. Glaub ja nicht, ich hätte mir nicht gedacht, dass du nur hier auftauchst, um wieder bei mir einzuziehen und dich durchzuschnorren. Das ist vorbei, ein für alle Mal. Bis zum Ende des Monats gebe ich dir noch Zeit, hast du dann keinen neuen Job, werde ich mich nicht mehr für dich rechtfertigen. Meine Güte, du bist fünfunddreißig, andere sind da schon zum Juniorpartner ernannt worden und du schaffst es nicht einmal, länger als ein Jahr angestellt zu bleiben. Eine Schande ist das.«
Ich spüre, wie mir das Blut aus dem Gesicht weicht. Meine mühsam aufrechterhaltene Fassung schwindet und die Last ihrer Worte drückt schwer auf meine Schultern. Was denkt sie denn, wie ich das ohne Unterstützung anstellen soll? Womöglich sollte ich etwas erwidern, aber ich kann meinen Mund einfach nicht mehr öffnen, sehe nur hilflos dabei zu, wie sie sich von Henry verabschiedet und dann zu ihren Freundinnen geht.
Das war es dann also. Vermutlich ist es sowieso Zeitverschwendung, mich weiter nach einem Job umzusehen, ich sollte gleich planen, so unauffällig wie möglich abzuhauen. Bevor Scott mich doch noch zwischen seine Krallen bekommt.
Ich kann nicht einmal schlucken, weil mein Mund viel zu trocken ist. Aber ich fühle mich auch zu schwach, um mein Wasserglas zu heben. Das Rauschen in meinen Ohren wird immer lauter. Es ist vorbei.
Eine Berührung an meinem Arm lässt mich wieder aufsehen. Natürlich, Henry. Warum sollte er auch gegangen sein. Und jetzt lächelt er wieder so unerträglich. Wenn ihn doch nur endlich der Blitz treffen würde!
»Was?«, frage ich ungehalten und rücke von ihm ab. Das fehlt mir noch, dass er mich jetzt blöd aufheitern will.
»Amy hat mir vorhin schon erzählt, dass du heute aus deinem Appartement raus musstest.«
»Schön für Amy.« Blödes Tratschweib!
»Weiß ich nicht, sie hat es ganz normal erzählt.«
»Was … Ach, vergiss es.« Es gibt wenige Dinge, die noch schlimmer sind als meine Gespräche mit Henry. Dass wir gerade eins führen, schiebe ich daher auf meine Notlage, andernfalls wäre ich schon weg.
»Aber du suchst jetzt immer noch, richtig?«
»Das hast du doch gerade mitbekommen, oder nicht?«
Henry lächelt unschuldig und hebt seine Hände. Als einziger auf der Veranstaltung hat er keinen Alkohol und auch sonst nichts zu trinken in der Hand. »Ihr redet immer so, als könntet ihr Gedanken lesen, da komme ich nie mit.«
Na wenigstens ist er sich seiner Dummheit manchmal bewusst. Ich schüttle den Kopf und schaffe es endlich, mein Glas anzuheben und zu trinken. Wer weiß schon, wann ich wieder etwas bekomme.
»Aber ich verstehe immer noch nicht ganz …«, Henry kratzt sich über seinen Dreitagebart, »wenn du eine Wohnung brauchst, kannst du doch erst einmal zu mir kommen.«

Noa Liàn