Leseprobe: Der Mann seines Vaters

Niemand öffnete.
Joey klingelte erneut und wartete. Angestrengt horchte er, doch er konnte keine Schritte hören. Er kramte sein Smartphone aus der Jacke und las noch einmal im letzten Chat mit seinem Vater. Dass Joey heute gegen acht ankommen würde, hatte er bestätigt.
Noch einmal klingelte er. Vielleicht war sein Vater ja gerade im Bad und brauchte einfach einen Moment. Doch wieder wurde die Tür nicht geöffnet und kein einziges Geräusch war von drinnen zu vernehmen.
»Wehe, der hat mich vergessen.« Genervt öffnete Joey den Chat und begann, eine Nachricht zu tippen. Doch dann hörte er eilige Schritte hinter sich und drehte sich um.
Ein schlanker, dunkelhaariger Mann, vielleicht um Ende dreißig herum, öffnete das Tor und lief auf ihn zu. Er trug eine schwer aussehende Einkaufstasche und die roten Flecken auf den Wangen zeugten davon, dass er sich wohl beeilt hatte. »Hallo. Du bist Joe, richtig?« Atemlos streckte er ihm eine Hand entgegen und ließ beinahe die Einkaufstasche fallen, woraufhin Joey aus Reflex nach der Tasche griff.
»Ja, bin ich. Aber Joey ist mir lieber. Ähm, du bist …«
»Allard«, antwortete er. »Ich bin der Lebensgefährte von deinem Vater.« Er lächelte freundlich und wollte Joey schon wieder die Einkäufe abnehmen.
»Lass mal, schließ auf, so schwer ist die Tasche nicht, das bekomme ich schon reingetragen.« Außerdem brauchte er etwas, um sich abzulenken, denn in Allards Stimme lag ein leichter Akzent, der durch Joeys Körper kribbelte. Er konnte ihn nicht ganz zuordnen, dafür war er zu schwach, aber Allard sah nicht nur gut aus, er hörte sich auch sehr gut an.
»Oh, danke.« Eilig schloss Allard die Tür auf und ließ Joey hinein. »Wartest du schon lange? Eigentlich wollte Massimo bereits hier sein.« Er sah zur Uhr und runzelte die Stirn.
»Nein, ich bin gerade erst angekommen.«
»Zum Glück. Tut mir leid, dass du warten musstest, das war anders geplant. Ich …« Allard griff nach der Einkaufstasche und ging in einen Raum kurz hinter der Eingangstür.
Joey ging ihm nach und stellte fest, dass das geöffnete Fenster zu einer Küche gehörte. Sie war nicht besonders groß, besaß aber einen Essplatz, an dem vier Personen sitzen konnten.
Allard stellte gerade die Einkäufe auf die Küchenzeile und drehte sich dann wieder zu ihm um. »Ich zeig dir dein Zimmer, dann kannst du dich erst einmal einrichten, während ich etwas zu essen mache. Du hast bestimmt Hunger, oder?«
»Ein wenig, ja«, antwortete Joey zurückhaltend, dem der Mann jetzt irgendwie leidtat, weil er sich wegen ihm zu stressen schien. »Aber das hat keine Eile. Ich würde erst einmal den Rest auspacken und duschen, wenn das okay ist.«
»Ja, natürlich, ich –«
»Meine Tasche kann ich tragen, keine Sorge«, sagte er schnell, als ihm Allard auch noch das Gepäck abnehmen wollte.
»Oh … gut. Dann … hier entlang.«
Allard führte ihn einen schmalen Flur entlang bis zu einer Treppe, die nach oben führte. Während er voranging, musste sich Joey zusammenreißen, um ihm nicht auf den Hintern zu sehen, der in einer gut sitzenden Jeans steckte. Das war nun wirklich nicht akzeptabel, der Mann war schließlich vergeben. Und nicht einfach an irgendwen, sondern an seinen Vater!
Oben angekommen, drehte sich Allard lächelnd zu ihm um und wies zu einem der Zimmer. »Hier ist dein Raum. Ich habe schon einmal ein paar von deinen Büchern in die Regale geräumt, damit du das nicht machen musst.« Er zeigte auf einen weiteren Raum. »Hier ist das große Badezimmer. Ich habe dir deine Handtücher an die Haken gehängt, die findest du dann schon. Wenn du etwas brauchst, ruf mich einfach. Ich würde sonst erst einmal Essen machen. Magst du Lasagne?«
»Klar, klingt lecker«, antwortete Joey und versuchte, sein Staunen zu verbergen. Sein Vater mochte ihn vielleicht vergessen haben, aber wenigstens ein Mann war in diesem Haushalt auf ihn vorbereitet gewesen.
»Gut, dann … gehe ich wieder runter. Ich bin in der Küche.«
Joey ließ ihn vorbei und sah ihm verwirrt hinterher. Er hatte seine Bücher eingeräumt? Misstrauisch betrat er das Zimmer und sah sich um. Ein großzügiger Schreibtisch stand in der Nähe des Fensters, neben dem sich tatsächlich ein Bücherschrank befand, der seine Fachbücher enthielt. Als er zu dem Kleiderschrank herüberging, stellte Joey mit Erstaunen fest, dass seine Schuhe und die Sportkleidung ebenfalls schon einsortiert worden waren. Selbst seine Badmintonschläger hatten eine eigene Halterung bekommen, an der sie jetzt hingen. Und Joey hatte den eindeutigen Verdacht, dass Allard auch daran einen großen Anteil hatte.
Das Bett war ordentlich bezogen worden und mit mehren Kissen, dicken und dünneren ausgestattet worden. Ohne Frage, hier ließ es sich leben und studieren. Wenn Allard nur halb so gut kochte, wie es die ersten Gerüche aus der Küche vermuten ließen, würde er sich schnell wie zuhause fühlen. Einzig seine Mutter fehlte.
Er schrieb ihr schnell eine Nachricht, dass er gut angekommen war, hing seine Jacke über einen Kleiderhaken, nahm sich ein paar lockere Sachen und ging ins Bad. Es war wirklich groß. Besaß eine Wanne und eine Dusche und sogar zwei Waschbecken. Die Toilette war mit einem Wandvorsprung abgegrenzt und ließ etwas Privatsphäre zu.
Joey drehte sich herum und suchte die Handtücher. Über einem kleinen Regal waren mehrere Haken, die beschriftet waren. Joe stand über dem einen, an dem ein großes Badetuch hing. Auch an dem Regal stand sein Name, über einem der Fächer, die weitere, verschieden große Handtücher enthielten.
»Alle Achtung«, murmelte Joey und pfiff durch die Zähne. Dann beeilte er sich und duschte schnell, weil er umso bestrebter war, Allard näher kennenzulernen.
Das heiße Wasser tat gut. Der September war bisher zwar nicht allzu kalt gewesen, doch die Abende waren immer noch frisch. Nachdem er sich gründlich gewaschen hatte, rubbelte er sich fix trocken und schlüpfte in seine Alltagskleidung. Sein Handtuch hängte er wieder an den sorgfältig beschrifteten Haken.
Zurück in seinem Übergangszimmer entdeckte er eine Wäschetruhe, von der er annahm, dass er dort seine getragenen Sachen reinwerfen konnte. Im Bad selbst hatte er jedenfalls keine gesehen. Dann räumte er noch seine Reisetasche aus und legte sie zusammen mit seinen anderen Sachen in den Kleiderschrank.
Nun hielt ihn aber wirklich nichts mehr auf. Barfuß ging er nach unten, um nachzusehen, wie weit Allard mit dem Essen war. Und um ihm vielleicht ein bisschen zuzusehen und mit ihm zu reden.

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Noa Liàn