Leseprobe: Das Vermächtnis des Ewigen Eises

Das Eis und die Nacht brachten endlich diese eigentümliche Ruhe über das Land. Kleine Wirbel in den Senken ließen vermuten, dass es windig war, doch kein Laut davon drang an Nerios Ohren.
Der zweite Mond stand hoch am Himmel, während der erste und dritte sich den Horizont teilten. Das silbrige, erhabene Licht, das sich dadurch über dem Schnee ausbreitete, hatte er länger nicht gesehen. Sturmwolken hatten die vorangegangenen Nächte trübe und finster sein lassen, die rechtmäßigen Herren des Nachthimmels verdrängt.
Doch nun glitzerten die Kristalle verlockend friedlich im hellen Mondlicht, riefen ihn stumm und eindringlich zu sich. Versprachen Erlösung und Ruhe. Einklang mit sich selbst und seiner Last.
Er könnte gehen. Von hier fort, weit weg von der Bürde, den ewig urteilenden Blicken und vor allem fort vom Schmerz. Hinaus ins Eis, in die verführerische Ruhe, die es mit sich brachte. Bestimmt würde es nicht wehtun. Das tat es nie. Nie fror er wirklich, stattdessen verbrannte ihn die heuchlerische Wärme in seinem Rücken.
Schloss Fross war die größte Zuflucht im Nordwesten, bekannt für seine Wärme, die seine Erbauer den Bewohnern ermöglicht hatten. Kein anderes Haus, keine Hütte und erst recht kein notdürftiger Unterschlupf, wenn die Eiswinde wehten, war so behaglich wie Nerios Heim. Und doch hatte der Frost lange Einzug erhalten. Freilich nicht, indem er sich einen direkten Weg über die Torschwelle gebahnt hatte. Stattdessen hatte er den Weg in die Herzen der Bewohner genutzt.
Wie gern würde er dem einfach entkommen. Im Gegensatz zu seinem Körper sehnte sich seine Seele sehr wohl nach Wärme und Geborgenheit. Aber darauf würde er weiterhin verzichten müssen. Erst am Morgen hatte ihn sein Vater, König Narzeon, darüber aufgeklärt, dass Nerio dem König aus dem Süden bald zu Diensten sein musste. Wie immer hatte sein Vater dabei geklungen, als würde er lästigerweise zu einem Bediensteten sprechen. Genaueres wusste er deswegen noch nicht, nur, dass aktuell Vorbereitungen für die Reise nach Fross getroffen wurden.
Ein Schauer erfasste Nerio. Noch immer war die Nacht ruhig und klar, doch sein Inneres sträubte sich gegen die Aufgabe, die ihm bevorstand.
Immerhin, wenn alles gut ginge, würde er eine Belohnung erhalten. Mellau. Schon der Gedanke an die reiche goldgelbe Farbe des Getränks ließ Nerio das Wasser im Mund zusammenlaufen, vom betörenden Honigduft ganz zu schweigen. Sein Vater hatte es nicht direkt ausgesprochen, doch die Tatsache, dass er gesondert erwähnt hatte, wie viel Honigrum König Rouvarion für den erfolgreichen Auftrag bereitstellen würde, ließ Nerio vermuten, demnächst ein paar bessere Augenblicke genießen zu können. Womöglich konnte er sich so mal wieder einen heißen Badezuber vorbereiten lassen. Konnte er sich überhaupt daran erinnern, wann das zum letzten Mal möglich gewesen war? Ihm fiel es beim besten Willen nicht ein.
Wie viel vom Rum würde er dafür benötigen? Eine ganze Flasche? Oder konnte er sie vielleicht aufteilen und mehrmals baden? Viel hing sicherlich davon ab, wie großzügig Rouvarion und sein Vater sein würden. Aber Wind und Eis fernhalten zu können, war eine seltene Fähigkeit, und wenige beherrschten sie wirklich gut. Oder in dem Maß, wie es Nerio möglich war. Dann sollte eine ganze Flasche Mellau kein Problem darstellen. Je nachdem, wie zufrieden Rouvarion mit Nerio war, konnte er womöglich unter der Hand etwas aushandeln.
Allerdings sagten alle, König Rouvarion wäre wie ein Wilder, dem man nicht trauen konnte. Die Menschen im Süden waren ohnehin von einem anderen Schlag. Gröber, weniger zivilisiert. So sagte man. Nerio wusste davon nur wenig, denn er war nie weit in den Süden gereist. Immer nur zum Schwarzen See und hinauf bis zu den Bergen. Weiter als Glacien hatte es ihn nie gezogen.
Sicherlich, der Süden war nun auch seit einigen Jahren mit Eis überzogen, doch etwas an der Kälte dort war ungemütlicher. Sie war nasser und zugiger. Vermutlich ließen sich die Menschen deswegen auch Bärte wachsen, damit ihre Gesichter besser geschützt waren, wenn sie auf dem Meer Jagd auf Walfische und Robben machten. Einmal hatte er so einen Jäger gesehen, weil dieser Handel in Glacien betrieben hatte, als Nerio dort während eines Eissturms ausharren musste. Das Gesicht war wettergegerbt gewesen und erstaunlich braun. Dazu hatte er einen wilden Bart gehabt, der sogar vermocht hatte, den Hals des Jägers zu verdecken.
Ungefähr so stellte sich Nerio auch Rouvarion vor, mit dem Narzeon schon häufiger Geschäfte gemacht hatte. Nicht, weil sich die Königreiche Fross und Néve wohlgesonnen waren, sondern einzig und allein deswegen, weil es notwendig war, um zu überleben.
Wie viele Jahre war es her, dass es eine richtige Blütezeit gegeben hatte? Nerios Großvater hatte immer davon berichtet, doch so richtig hatte er sich das nie vorstellen können. Alles, was er kannte, war zu jeder Zeit von Kristallen aus Eis überzogen gewesen. Nur die kräftigsten Lebewesen und Pflanzen waren in der Lage, dem zu trotzen.
Und nun wurde es auch im Süden spürbar kälter. Das Meer fror im Winter bedenklich weit zu, machte die Jagd auf Fisch und Säuger schwerer. Vermutlich war das der Grund, warum Rouvarion nun dringender Hilfe brauchte. Die Kälte verschonte niemanden mehr.
»Prinz Neriacon«, rief ihn eine wohlbekannte Stimme hinter ihm an und jagte ihm einen weiteren Schauer über den Rücken, der nichts mit körperlicher Kälte zu tun hatte. »Ihr plant doch nicht, so kurz vor dem Handel zu fliehen?« Die Stimme war jetzt ganz nahe und Nerio musste mit aller Macht die Versuchung niederkämpfen, sich umzudrehen.
»Nein, Frek«, log er mühelos und verschloss sein Unwohlsein tief in sich. Er konnte es sich schlicht nicht leisten. Die erste Wache von Schloss Fross hatte viel Macht, manche munkelten sogar, mehr als die Königin. Und Nerio war einer, der diesem Munkeln zustimmte. Er wusste es schließlich.
»Warum steht Ihr dann hier und starrt wie verzaubert in die Nacht?«
Ja, es war ein Zauber, der ihn jedes Mal an die Schwelle seines Gemaches und auf den Balkon brachte. Eine andere Macht übernahm jeden Abend sein Handeln, ließ ihn hinaustreten und die Sehnsucht nach der Ruhe des Eises weiter wachsen.
»Nerio?« Freks Atem streifte seinen Hals, ließ einen neuerlichen Schauer seinen Körper schütteln.
Langsam, damit er nicht den Eindruck erweckte, Angst zu haben, drehte sich Nerio um. Freks wache Augen musterten ihn. Das spöttische Lächeln tat nichts dafür, diesen Mann freundlich aussehen zu lassen. Die Kälte in den Augen war zu präsent.
»Hat Vater nach mir gerufen?«, fragte Nerio, um das Gespräch in ein ungefährlicheres Gebiet zu lenken, und ging dann nahe an Frek vorbei, hinein in sein Gemach.
»Nein, hat er nicht. Ich wollte nur sehen, wie dir die Nachricht gefällt, einem Wilden dienen zu müssen.«
Nerio unterdrückte ein Schnauben. Es war so typisch für Frek, zu ihm zu kommen, wenn seine Not am größten war. »Es ist ein Handel. Von dienen kann keine Rede sein.« Jedenfalls konnte sich Nerio das einreden. Und da war immerhin die Aussicht auf eine Belohnung. So gering sie am Ende sein mochte. Auch eine halbe Flasche Mellau würde ihm recht sein.
Aus dem Augenwinkel sah Nerio, dass Frek die Fensterflügel sorgfältig schloss. Vermutlich bildete er es sich nur ein, aber sogleich stieg die Hitze des Raumes unerträglich an. Er hasste geschlossene Fenster und Frek wusste das. Er schloss sie immer nur, wenn das, was sie taten, an keine fremden Ohren dringen sollte.
Schon kam Frek auf ihn zu, näherte sich ihm wie ein hungriger Weißbär, der endlich Beute ausgemacht hatte. »Was denkst du, wird er noch andere Dienste von dir fordern? Er soll unersättlich sein.«
Nerio gab sich gar nicht erst die Mühe, Frek auf seine eigene Unersättlichkeit hinzuweisen. Dabei hatte er Nerio nach seiner Vermählung erklärt, dass er sich von einem anderen Mellau erarbeiten sollte. Nachdem jedoch ersichtlich war, dass seine Gattin ein Kind erwartete, war er wieder auf Nerio zugekommen.
Er hasste diese Treffen. Jedoch brauchte er sie mehr, als er sich selbst eingestehen wollte. Die körperliche Hitze war kaum auszuhalten, aber sich nicht ständig abgelehnt zu fühlen, beinahe schon begehrt zu werden, danach sehnte er sich so gewaltvoll, dass es ihm genauso Schmerzen bereitete. Und als erste Wache war Frek meist im Besitz von etwas, was Nerio noch mehr als dieses verdrehte Verlangen brauchte. Mellau.
Genau in dem Moment, als er das dachte, griff Frek in seinen hellen Umhang und zog eine Phiole mit der Flüssigkeit heraus.
Nerio konnte nicht anders. Sein Blick folgte dem Fläschchen, versuchte, es festzuhalten. Dabei war unausgesprochen klar, was Frek dafür erwarten würde. Wie immer. In seinem Bauch tobte ein Feuer, sein Verlangen auf das Mellau übernahm sein Denken.
Freks Lächeln wurde verschlagen. »Ich sehe, wir verstehen uns. Da du heute die Aufgabe bekommen hast, dem Wilden behilflich zu sein, gebe ich dir die Hälfte schon zu Beginn. Was sagst du?«
Am liebsten würde Nerio gar nichts sagen, doch falscher Stolz würde ihn nur in eine schwierige Lage bringen. »Erwartet dich deine Liebste nicht zurück? Sie muss dich nach der Woche Wachgang schrecklich vermissen.«
Frek machte eine unwirsche Handbewegung und kam Nerio so nahe, dass er ihm eine Hand besitzergreifend in den Nacken legen konnte. Die Berührung sandte Schmerzen in Nerios Rücken und er musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht aufzustöhnen. »Warum sollte sie die erste Wache infrage stellen? Und warum tust du es?«
Eine deutlichere Warnung brauchte Nerio nicht. Noch einmal flackerte sein Blick zur Phiole, die durch das Mellau goldgelb schimmerte. »Die Hälfte am Anfang«, bestätigte er und sah zu, wie Frek selbstzufrieden nickte und dann das Fläschchen öffnete.
Frek griff wieder nach Nerios Nacken. »Mund auf.«
Scham ergriff ihn, doch Stolz war etwas für Menschen, die ihn sich leisten konnten. Er tat, was von ihm verlangt wurde, und öffnete leicht die Lippen.
Schon der erste honigartige Tropfen auf seiner Zunge nahm den Schmerz im Nacken. Weitere Tropfen den Schmerz aus seinem Körper. Nachdem er die Hälfte getrunken hatte, war auch Freks Nähe erträglich, dessen sengender Blick sogar fast willkommen. Die Wirkung würde nicht lange anhalten, doch sicherlich würde der Schmerz erst wiederkehren, wenn er sich die zweite Hälfte der Flasche verdient hatte.
Dass Frek begonnen hatte, die Knöpfe an Nerios hohem Kragen zu öffnen, bekam er nur noch am Rande mit, die Leichtigkeit in seinem Kopf blendete alles aus, was ihm sonst zu schaffen gemacht hätte. Anstatt Frek zu beachten, genoss Nerio den Moment ohne Schmerz, atmete befreit auf.
»Ja, davon kannst du nie genug bekommen.«
Wovon Frek redete, wusste Nerio nicht und das war gut so. Kurz wanderten seine Gedanken noch einmal zu König Rouvarion, von dem er womöglich mehr als nur eine Phiole voll Mellau bekommen konnte. Wenn er ihm dafür zu Diensten sein musste – nun, das war nichts Neues. Und während sich Nerio einredete, von Frek begehrt zu werden, weil dieser ihn erneut auf das Bett drückte, konnte er nur daran denken, alles für eine weitere Phiole zu tun. Wenn das misslang, konnte er immer noch dem Ruf des Eises folgen.

Noa Liàn