Leseprobe: Der Kampf des Löwen um seinen Engel

Ich habe ihn lange nicht gesehen. Doch meine Gefühle für ihn fühlen sich gerade kein Stück anders an. Wie sehr ich ihn vermisse, war mir in den letzten Wochen nicht einmal mehr richtig bewusst, weil ich mich gezwungen habe, für Ablenkung zu sorgen.
Jetzt führen mich meine Schritte ganz automatisch zu ihm. Er scheint mich noch immer nicht zu bemerken, sitzt auf diesem Barhocker, als würde ihn nichts aus der Ruhe bringen können, als wäre er nicht monatelang weg gewesen.
Ich stehe jetzt ganz dicht neben ihm, ignoriere den Kerl in meinem Rücken, den ich beiseite gedrängelt habe, um zu ihm zu gelangen. »Hallo, Elio.« Meine Stimme ist rau. Ich bin wirklich schlecht darin, zu verbergen, wie es um mich steht.
Langsam dreht er seinen Kopf zu mir, fast so, als hätte er erwartet, auf mich zu treffen. Seine goldbraunen Haare sind kürzer, fallen ihm nicht mehr lockig in die Stirn, aber er ist nach wie vor verdammt heiß. »Guten Abend, Leon.« Seine Miene spiegelt nichts von seinen Gefühlen wieder. Er könnte gelangweilt sein, müde oder auch einfach nur uninteressiert, aber ich weiß, dass das sein Schutzmechanismus ist, wenn er aufgeregt ist.
»Darf ich dir etwas zu trinken ausgeben?«
Er schlägt die Augen nieder. »Besser nicht.«
»Autsch.«
»Ich bin vergeben. Und ich sehe dir an, was du eigentlich willst. Die Antwort lautet nein.«
Ich seufze. »Nur ein Drink. Ich lasse dich auch in Ruhe.« Er sieht nicht so aus, als würde er mir glauben, doch schließlich nickt er und ich gebe Henni, dem Chef des Anwesens, der uns schon aufmerksam beobachtet, ein Zeichen. »Bist du für die Show hergekommen?«
»Ja.«
Natürlich, warum auch sonst? Mir hat er ja deutlich zu verstehen gegeben, was er von mir hält und dass er auf mich verzichten kann. Warum muss es immer noch so schmerzhaft sein? »Hätte ich mir denken können«, antworte ich leise und Elio hebt seinen Blick, sieht mir direkt in die Augen.
Er antwortet wieder nicht, aber seine hellbraunen Augen flackern verdächtig. Ihm so nahe zu sein, verlangt mir alles ab. Er ist so schön, dass es wehtut. Dennoch darf ich ihn nicht berühren, mich ihm nicht weiter nähern, auch wenn es das Einzige ist, woran ich denken kann – was ich unbedingt will! Mein Herz klopft heftig und meine Finger zucken, würden nur zu gern in seine Haare greifen, sich darin vergraben, ihn festhalten …
»Eure Drinks …«, sagt Henni plötzlich gedehnt in die Stille hinein, die eigentlich keine ist, da der Barraum voll ist und sich alle unterhalten. Und trotzdem hatte ich beinahe das Gefühl, wir wären allein. Das Scharren der Gläser über der Theke kratzt unangenehm in meinen Gedanken herum, löst sie auf und ich sehe mich gezwungen, meinen Blick von Elio abzuwenden.
»Danke«, sage ich, nachdem ich mich geräuspert habe, und reiche Elio seinen Mojito.
Er nimmt ihn, berührt dabei kurz meine Fingerspitzen, was schon ausreicht, um mich und meine Fantasien weiter durchdrehen zu lassen. Kein anderer hat es je geschafft, mich so leicht um seine Finger zu wickeln. Ich hätte so viele haben können, bin sogar hier im Anwesen begehrt. Aber gerade jetzt, so nahe bei Elio, wird mir mit aller Macht klar, dass ich noch lange nicht über ihn hinweg bin. Und gerade tue ich auch nichts dafür, dass es besser wird. Im Gegenteil, ich reiße mir die frisch vernarbten Wunden selbst wieder auf, nur um dann garantiert am Ende des Abends vor lauter Sehnsucht nicht zu wissen, was ich tun soll.
»Danke«, sagt Elio, seine sanfte Stimme kribbelt heftig durch meinen ganzen Körper.
Ob er gerade Reizwäsche trägt? Die, die ihn wie ein Engel aussehen lässt? Er ist vielleicht wegen der Show hier, der Tänzer, die sich in ebenso gewagten Outfits zu bewegen wissen. Aber ich bräuchte das nicht. Mir würde reichen, Elio allein zu haben, ihn auf mein gedankliches Podest zu stellen und nur für mich tanzen zu lassen. Unter meinen Fingern, bis er sich voll Verlangen windet, mich nicht mehr zurückweist.

Noa Liàn